Bildung im Wandel: Von Schulpflicht zu Bewusstseinsentwicklung
Von Salome
Kommunikationspsychologie, Arbeits- und…
Die Entwicklung einer Gesellschaft hängt maßgeblich von ihrer Bildungspolitik ab. Politik leitet sich von Politika (griech.: Πολιτικά) ab und bedeutet so viel wie „Dinge, die die Stadt betreffen“. Der Begriff wird heut im Duden als „[…] die Durchsetzung bestimmter Ziele besonders im staatlichen Bereich und auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtetes Handeln […]“ definiert und Google erklärt „alle Maßnahmen, die sich auf die Führung einer Gemeinschaft, eines Staates beziehen“. Schon im Jahr 1717 entwickelte Friedrich Wilhelm I., der König von Preußen, Ideen von der Nützlichkeit einer Schulpflicht von Kindern für die Gesellschaft. Mit der Weimarer Verfassung wurde im Jahr 1919 diese Annahme in Art. 145 der Verfassung verankert. Dort heißt es: „Es besteht allgemeine Schulpflicht.“
In der Vergangenheit hat die Pflichtschulbildung eine streitbare Rolle bei der Schaffung einer ‚informierten‘ Bürgerschaft und der Entwicklung einer Gemeinschaft gespielt, die auf gemeinsamen Werten, Erkenntnissen und Wohlstand basiert. Doch während sie einst als tragende Säule galt, stellt sich in der heutigen sich rasch verändernden Welt die Frage:
Reicht sie noch aus, und was bedeutet Bildung wirklich?
Als Kommunikationspsychologin ist mir bewusst, wie wichtig Kommunikation ist, um als Werkzeug in der Welt eines anderen Menschen zu wirken. „Kommunikation“ ~ verbal oder nonverbal ~ findet immer statt, so wie es Watzlawick in seinem Axiom „Man kann nicht nicht kommunizieren“ schon beschrieb. Wo Kommunikation stattfindet, da fließt auch Information. Diese Beein-fluss-ung findet immer statt und ist selbstverständlich nicht auf den Rahmen der Pflichtschule zu beschränken. Und wo beeinflusst und im weitesten Sinne „manipuliert“ wird, da findet Bildung statt denn: hier bildet sich etwas!
Jean Piagets Arbeit legte das Fundament für die Konzeptbildung und prägte maßgeblich die Entwicklungspsychologie. Er betonte, dass das Wachstum des Bewusstseins und die Erweiterung unseres Verständnisses der Welt durch aktive Interaktionen mit der Umwelt entstehen. Kinder, so Piaget, konstruieren ihr Wissen, indem sie ihre Erlebnisse in bereits bestehende mentale Strukturen integrieren oder diese Strukturen anpassen. Diese Auseinandersetzung mit neuen Ideen und Erfahrungen ist im Wesentlichen das, was Bildung ausmacht: Ein ständiger Prozess des Lernens, des Anpassens und des Wachsens: Transition.
Kommunikation spielt dabei eine entscheidende Rolle. Es ist durch den Austausch von Ideen und die Interaktion mit anderen, dass wir unsere eigenen Überzeugungen überdenken und unsere Konzepte erweitern. Jede Konversation, jedes gelesene Buch oder jede neue Erfahrung bietet eine Gelegenheit zur Bewusstseinserweiterung und Bildung.
Lange wissen wir um die Prozesse von Neuroplastizität und Neurogenese, dass Neurone – also Nervenzellen - im Hirn, in ihren Verknüpfungen veränderlich sind und auch neugebildet werden können – lebenslänglich!
Übrigens: Auch Künstliche Intelligenz, sogenannte KI, zeigt in ihrer Arbeitsweise bemerkenswerte Parallelen zum menschlichen Lernprozess. Wie Menschen, insbesondere Kinder, ihre Umwelt beobachten und daraus lernen, so basiert die KI auf Datenanalyse. Mittels Techniken wie Deep Learning und neuronalen Netzen, „smart grids“, die in gewisser Weise die Struktur unseres Gehirns nachempfinden, passt sich die KI stetig an und lernt. Dieses Lernen durch Datenanalyse und Anpassung zieht einen beeindruckenden Vergleich zu dem, wie wir durch Interaktion und Erfahrung wachsen. Dennoch sind Unterschiede unverkennbar. Menschen lernen ein Leben lang, motiviert durch Emotionen und Neugier, während KI in der Regel auf ihren Entwicklungsrahmen beschränkt bleibt. Vor dem Hintergrund der exponentiellen Softwareentwicklung sehe ich den Bedarf für die Evolution des menschlichen Bildungsverständnisses!
In diesem Sinne sollten wir Bildung nicht nur als den Prozess des Erwerbs von Fakten und Informationen sehen, sondern als eine tiefere Reise der Bewusstseinsentwicklung. Frederic Laloux, in seinem bahnbrechenden Buch über zukunftsweisende Organisationen, betont einen ähnlichen Punkt, wenn er über Bildung spricht. Für Laloux ist Bildung nicht nur das Anhäufen von Wissen, sondern ein Prozess der Selbstentdeckung und -verwirklichung. Es geht darum, unser volles Potenzial zu erkennen und zu entfalten.
Wenn wir diesen erweiterten Bildungsbegriff akzeptieren, dann müssen wir auch an- erkennen, dass die traditionelle Pflichtschulbildung, obwohl wahrscheinlich nützlich in der Vergangenheit, möglicherweise Anpassungen benötigt, um den zukünftigen Anforderungen gerecht zu werden. Anstatt Schülern lediglich ein festgelegtes Curriculum zu präsentieren, könnten Bildungseinrichtungen Orte sein, an denen individuelle Bewusstseinsentwicklung gefördert wird, wo Schüler ermutigt werden, Fragen zu stellen, kritisch zu denken und ihre eigenen Pfade des Verständnisses und der Selbstentdeckung zu verfolgen.
Ein solcher Ansatz würde die Beziehungskultur, die Gerald Hüther hervorhebt, in den Mittelpunkt stellen. Die Qualität der Beziehungen, die in Bildungseinrichtungen geschmiedet werden, beeinflusst nicht nur das Lernen, sondern auch die Entwicklung des individuellen Bewusstseins. Durch den Aufbau starker, unterstützender Beziehungen können Schüler ein tieferes Verständnis für sich selbst und die Welt um sie herum entwickeln.
Die Herausforderung für die Zukunft wird darin bestehen, Bildungssysteme zu schaffen, die nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch die Bewusstseinsentwicklung und Beziehungsfähigkeit – die Beziehungsfähigkeit als neuronale Verknüpfungskompetenz abstrakter Inhalte aber auch zwischenmenschlicher Beziehungskultur - zu fördern. Es wird darum gehen, die tief verwurzelten Strukturen der traditionellen Pflichtschulbildung zu überdenken und Raum für individuelle Erkundungen, kritische Reflexion und tiefgreifende Kommunikation zu schaffen. Ich freue mich, dass es Räume wie ARLINA gibt, die Alternativen entwickeln.
In der Reflexion über die Rolle der Pflichtschulbildung in der Vergangenheit und die Bedeutung von Bildung im Kontext der Bewusstseinsentwicklung können wir uns eine Zukunft vorstellen, in der Bildungseinrichtungen zu Inkubatoren des menschlichen Potenzials avancieren. Eine Zukunft, in der jeder Schüler und jede Person nicht nur lernt, sondern sich auch selbst entdeckt.
Ich stelle mir vor, wie dieses entdeckte Selbst-Bewusstsein Einfluss auf die Gemeinschaft nimmt und frage mich: Wie würde Gesellschaft dann aussehen?
Herzliche Grüße,
Salome
Quellen:
Heinrich, Hüther, & Senf. (2020). #Education For Future: Bildung für ein gelingendes Leben. Goldmann Verlag.
Laloux, F. (2015). Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. Vahlen Verlag.
Myers, D.G. (2014). Psychologie. Springer Verlag.
Piaget, J. (1988). Das Weltbild des Kindes. dtv Verlag.
Urchs, M. (2002). Maschine, Körper, Geist. Eine Einführung in die Kognitionswissenschaft. Vittorio Klostermann GmbH.
Watzlawick, P. (1969). Formen, Störungen, Paradoxien. Huber Verlag.
Webseiten:
Duden. (2023, August 31). Politik. https://www.duden.de/rechtschreibung/Politik
Deutschlandfunk. (2023, August 31). Einführung der Schulpflicht in Preußen: zur Bildung guter Untertanen. https://www.deutschlandfunk.de/einfuehrung-der-schulpflicht-in-preussen-zur-bildung-guter-100.html
Deutsches Schulportal. (2023, August 31). Schulpflicht Kalenderblatt 28. September 1717. https://deutsches-schulportal.de/bildungswesen/schulpflicht-kalenderblatt-28-september-1717/