Die gesellschaftliche Macht der Verlässlichkeit
Von Monia
monias.org
Ich habe das Gefühl, dass eine der größten Nachwirkungen der Pandemie in der mangelnden Verlässlichkeit liegt. Es hat sich bewiesen, dass die Welt nicht untergeht, wenn nicht alles sofort erledigt wird, z.B. dass Kund*innen und Kolleg*innen warten können oder Dinge dann eben spontan nicht stattfinden. Ich spüre, wie orientierungslos ich bin. Ich habe keine Ahnung, ob ich eine Lösung erhalte, wenn ich beim Kund*innenservice anrufe. Ich habe keine Ahnung, ob das Versprechen von Kolleg*innen, eine Aufgabe zu übernehmen, gilt. Ich weiß nicht, ob Freund*innen kommen, wenn sie es gesagt haben. Ich bin unsicher, ob ein Auftrag zustandekommt oder es nur eine enthusiastische Laune war, mir zuzusagen. Ich weiß nicht einmal, wann das Finanzamt meine Steuererklärung bearbeitet.
Alle sprechen von den großen Krisen, die uns verunsichern. Das mag sein. Mich verunsichern die kleinen, alltäglichen Dinge. Unser aller Sicherheitsbedürfnis ist an Orientierung und Überblick geknüpft. Je weniger Orientierung und Überblick wir haben, je unsicherer sind wir, je eher kann Trauma getriggert werden, je anstrengender ist unser Leben im Innen und Außen. Es mag ja sein, dass wir keine Orientierung im globalen Weltgeschehen haben – doch hatten wir die je? Meine Vermutung ist, dass wir damit wesentlich besser umgehen können, als nicht zu wissen, ob unser Kind heute überhaupt Unterricht hat, unsere demente Mutter Essen erhält, ob unser Honorar gezahlt wird oder unser*e Kolleg*in die Deadline einhält.
Es scheint, dass immer weniger Menschen den Überblick über ihre Versprechen behalten. Es gibt viele Gründe, etwas zuzusagen: einen Moment von Enthusiasmus, von Mitgefühl, von Verpflichtung. Es ist normal, dass wir manchmal Dinge zusagen, die dem Realitätscheck am nächsten Tag nicht standhalten. Verlässlichkeit in diesem Fall bedeutet, es dann auch transparent wieder abzusagen und den Betroffenen das Geschenk von Überblick und Orientierung zu machen.
Vielleicht ist es Zeitmangel, dass wir uns so überplanen, dass wir das Gefühl haben, keine Zeit mehr zu haben, um kurz zu überlegen, wer welche Information von mir braucht, um real orientiert zu sein, um eine Liste der Versprechen zu führen und aktiv mit ihr umzugehen. Doch wieviel mehr Zeit hätten wir, wenn wir nicht kontinuierlich einander hinterherrennen müssten, nicht immer damit befasst wären, Orientierung neu herzustellen.
Ich glaube, Verlässlichkeit ist politisch. Sie ist ein großer Schritt in der Gestaltung einer Gesellschaft, die gut für alle ist. Hier treffen Bewusstsein und Gesellschaft aufeinander: mit dem Bewusstsein dafür, was ich wem verspreche und welche Auswirkungen das auf mich und andere hat, wenn ich sie (nicht) einhalte, bin ich automatisch empathisch mit Realität verbunden. Für hohe Verlässlichkeit muss ich lernen, klare Prioritäten zu setzen. Meine Kraft und Zeit laufen nicht mehr versehentlich in die Dinge, nach denen jemand am lautesten schreit oder die als letztes auf meiner To-Do-Liste gelandet sind, sondern in die Dinge, für die ich mich aktiv entscheide.
Gesellschaftliche Gestaltung erfordert ein Dranbleiben, über viele Jahre. Hierbei müssen wir einander unterstützen, indem wir uns aufeinander verlassen können. Unser Wort muss gelten. Unser Versprechen an die Welt muss etwas bedeuten. Und wir haben es alle verdient, dass niemand mit unserem Sicherheitsbedürfnis spielt. Je unsicherer wir das Große empfinden, je radikaler dürfen wir füreinander Sicherheit im Kleinen herstellen – und das basiert immer auf Überblick und Orientierung.