Gefühle fühlen oder Gefühle denken

Gefühle fühlen oder Gefühle denken

Monia

Von Monia

monias.org

Ein Freund hat von seinen weiblichen Kolleginnen die Rückmeldung erhalten, dass er wirkt, als hätte er Angst vor Gefühlen. Das war mehr als überraschend, denn als systemischer Aufsteller arbeitet er mit seinen Gefühlen und von männlichen Kollegen erhält er oft positive Rückmeldungen über seine entwickelte emotionale Intelligenz. Wir haben gemeinsam festgestellt, dass er sehr wohl mit seinen Gefühlen arbeitet: er taucht für den Bruchteil einer Sekunde in sich ein, „erntet“ ein Gefühl und bearbeitet es dann weiter mit seinem Verstand. Er hat mich gebeten, ihn dabei zu unterstützen, Gefühle nicht nur zu denken, sondern tatsächlich zu fühlen – und selten hat mich eine Aufgabe so herausgefordert. Wie kann ich ihm erklären, wo sich die Gefühle befinden und wie man in sie hineintaucht?

Während er heroisch mit Stoppuhr in sechs-Minuten-Zeitfenstern in seinen Körper eintaucht und sich vom Analysieren und Verändern abhält, sich auf die reine Wahrnehmung konzentriert, kreisen meine Gedanken um Erklärbarkeit. Anhand der Ergebnisse, die er aus seinen inneren Tauchgängen mitbringt, verstehe ich immer besser, wo Missverständnisse liegen. So tasten wir uns Stück für Stück vor.

Zunächst war er verwirrt, dass sich in den sechs Minuten immer mehrere Gefühle kurz zeigen. Ich war verwirrt, dass er Gefühle in Reinheit erwartet. Es gibt sie, die seltenen Momente, in denen wir wirklich nur eines fühlen. Sie sind fantastisch. Trauer in ihrer Reinheit macht alles weich, entspannt das ganze System, alles fließt. Wut in ihrer Reinheit bringt Kraft in jede Zelle. Freude in ihrer Reinheit durchströmt uns mit Lebendigkeit, wir können die Energie spüren, aus der wir bestehen. Diese Momente sind Geschenke, so schön, dass mir fast immer die Tränen kommen. Doch meistens sind Gefühle eher Spannungsgeflechte. Alles ist gleichzeitig da. Und während der Verstand das vielleicht als Widerspruch deuten würde, ergibt das auf emotionaler Ebene absolut Sinn. Alles passt zusammen. Fühlen ist vielleicht am ehesten wie Himmel beobachten. Es ist immer in Bewegung. Es kann gleichzeitig regnen und die Sonne scheint. Ein Gewitter kündigt sich an, es gibt Wind und gleichzeitig Momente der Stille. Sonne und Mond tauchen auch mal gleichzeitig auf. Manchmal ist es ganz hell und manchmal ganz dunkel. Aber immer schön. Und niemals statisch. Natürlich können wir den Himmel fotografieren und dann sagen: „So ist der Himmel.“ Doch das wird nie stimmen. Wir können auch beschließen, wie der Himmel aussehen soll und tausend Dinge tun, das Bild unserer Vorstellung herzustellen. Wir können Angst vor Sonne, Sturm oder Gewitter haben, es wird trotzdem auftreten. Genauso ist es mit unseren Gefühlen. Sie sind immer da. Sie sind immer komplex. Sie sind immer neu angeordnet, in neuen Beziehungen zueinander. Und sie sind immer flüchtig. Unser Verstand ist davon maßlos überfordert, es gibt nichts, das man wirklich unters Mikroskop legen könnte, nichts, das wir als verlässliche Basis eines Konzeptes nutzen können. „Person X ist neidisch“ kann nur bedeuten „Person X hatte einen Moment des Neids“ – und daraus lässt sich weder Plan noch Einordnung der Person ableiten.

Die andere Erfahrung, die mein Freund in seinen sechs-Minuten-Tauchgängen macht, ist, dass er ganz viele Körperempfindungen hat. Dort schmerzt es, zwickt es, es gibt Druck. „Meinst Du das, Monia?“ fragt er mich. In mir ist ein großes Jein und wieder weiß ich nicht, wie ich es erklären soll. Ja, die Gefühle sind im Körper. Eindeutig. Aber sie sind nicht auf derselben Schicht wie der Schmerz eines zuckenden Muskels (auch wenn ich häufig erlebe, dass sie diese Schicht nutzen, mich zu rufen, wenn sie Aufmerksamkeit wollen). Mein Körperempfinden hierzu kann ich vielleicht am ehesten mit dem alten Radio am Bett meiner Oma beschreiben. Da ist ein großer Körper und der empfängt auf verschiedenen Frequenzen. Vielleicht wäre „innerer Körper“ und „äußerer Körper“ am nächsten an einer Sprache, die sich für mich wahr anfühlt, obwohl das natürlich so nicht stimmt, denn ich kann tief im Innen auch meine Organe spüren. Oder grobstofflicher Körper und feinstofflicher Körper? In solchen Momenten habe ich immer große Sehnsucht nach fundiertem physikalischem Wissen, meine Vermutung ist, dass sich dort die Präzision der Sprache verbirgt, die ich eigentlich suche. Ich wähle jetzt mal den Begriff des inneren Körpers. Mein innerer Körper ist ein Raum. Dieser Raum ist dehnbar. Manchmal ist er ganz klein, manchmal füllt er mich komplett bis unter die Haut aus, manchmal wachsen wir gemeinsam in Richtung Unendlichkeit und mein materieller Körper bildet keine Grenze mehr. Wenn ich den Raum zu lange nicht betrete, habe ich ein wenig Angst vor ihm. Ich weiß nicht, welches Wetter mich erwartet und ob es mich überwältigen wird. Wenn der Raum zu klein geworden ist, kann ein Gewitter mich ganz schön erschüttern. Ist der Raum groß genug, ist es immer schön, lebendig und super interessant. Wenn er klein und dicht ist jedoch, passiert es mir wie meinem Freund: ich spüre kurz in die Nähe des Gefühlsraumes, nehme die erste Schwingung auf, die ich vor der Tür kriege, benenne diese als Gefühl und rette mich ganz schnell wieder in den Kopf. Das mache ich teilweise mehrmals in der Minute, ich brauche meine Gefühle, um die Welt zu navigieren, ich weiß sonst nicht, was wahr ist. Doch das heißt nicht, dass ich mich unbedingt auf sie einlasse. Doch irgendwann trete ich durch die Tür. Inzwischen weiß ich, dass die überfordernde Dichte sich nach spätestens zehn Minuten auflöst, der Raum sich mit meiner Anwesenheit weitet und es wieder eine wunderbare Himmelsbeobachtung wird. Was in dem Gefühlsraum passiert, lässt sich schwer in Worte fassen, doch es betrifft alle (inneren) Sinne. Es gibt Farben, Formen, Texturen, Felder, Beziehungen, Bewegungen. Und irgendwie glitzert es ziemlich oft ein wenig. Doch auch, wenn ich es verbal nicht vollständig erfassen kann, so ergibt es immer Sinn – bis ins letzte Detail. Es ist ein vollständig stimmiger Raum, eine Stimmigkeit, die gedankliche Konzepte nie erreichen können.

Eins meiner größten Aha-Momente meines Lebens war eine Teilnehmerin auf einem spirituellen Festival, die mir gesagt hat: „Ich weiß doch eigentlich, dass man an Gefühlen nicht sterben kann.“ Ich habe dabei gemerkt, dass ich davon nicht so überzeugt bin. Seitdem beobachte ich, was wir alles anstellen, um ja nicht fühlen zu müssen. Unsere allergrößte Angst scheint am Schluss gar nicht das Ereignis selbst, sondern das Gefühl, das es in uns auslöst. Doch Trauma entsteht nur, wenn uns ein Gefühl überwältigt. Wenn der Gefühlsraum groß genug ist, findet alles ganz von alleine seinen Platz, einfach nur eine weitere Himmelskonstellation.

Was ich durch die Selbstexperimente meines Freundes gerade auch lerne, ist, dass ich den inneren Körper durch den äußeren aktivieren kann. Wenn er den Zugang zu seinem Gefühlsraum nicht findet, mir aber genau berichtet, wo er welche Körpersymptome hat, kann ich mich davon durchfluten lassen und seinen Gefühlsraum in mir verkörpern. Seine Freude darüber freut mich dann so sehr, dass ich eine ganze Weile nur strahle. Wie schön es ist, andere Menschen so ganzkörperlich zu fühlen und sich darüber auch noch auszutauschen. Und wie demütig das macht, wenn ich wirklich mitfühle statt nur emotional mitdenke. Ich war einmal dabei, als eine Freundin behandelt wurde und ich legte mich (aus einer Mischung aus Neugier und Langeweile) spontan unter die Liege, spiegelte ihre Körperhaltung und öffnete mich für all ihre Empfindungen. Ein so großer Schmerz in der Hüfte durchflutete mich, dass ich es nur zwei Minuten aushielt, bevor ich aufsprang und mich ausschüttelte. Nie wieder habe ich ihr irgendeinen doofen Tipp gegeben, wie sie mit ihrer Depression umgehen soll. Jemand, der mit solchen Schmerzen überhaupt irgendetwas tut, verdient einfach nur Respekt, Respekt und noch mehr Respekt. Ich wusste natürlich, dass sie unter Schmerzen litt. Ich litt schließlich auch darunter, dass sie immer wieder darüber sprach. Es wirklich zu fühlen jedoch war etwas ganz anderes. Ich mag es auf jeden Fall sehr, dass wenn mein Gefühlsraum gerade weit genug ist, ich mich sicher fühle, andere Menschen in mich einzuladen. Und manchmal, ganz selten, merke ich, dass andere Menschen das auch mit mir machen und dafür habe ich dann Sprache: da fühle ich mich geliebt und gesegnet und weiß für einen kurzen Moment mit absoluter Sicherheit, dass wir wirklich alle mit allem verbunden sind.