Nichtstun
Von Philipp
Bildungswissenschaftler, Co-Founder des…
Ich bin zu einem Ausflug an den See verabredet. In meinem Rucksack sind Heidelbeeren, Badesachen und eine Decke. Während ich mit meiner Verabredung zum See fahre, umströmt uns warme Sommerluft. Wird radeln dahin. Wir lachen und philosophieren über die Schönheit der Welt. Am See angekommen suchen wir uns eine kleine Bucht. Ich breite die Decke aus und schon finden wir uns im Wasser wieder. Die Sonne scheint und das Wasser ist vom Wind leicht wellig. Zurück am Strand essen wir Heidelbeeren und Kirschen. Wir philosophieren weiter und erzählen über unseren Tag und die Termine, die wir heute hatten. Plötzlich, ohne Grund, verstummen wir und blicken in die Weite des Sees. Unser Gespräch war weder langweilig noch hatte jemand etwas Falsches gesagt. Minute um Minute verstreicht. Stille. Wärme. Geschlossene Augen. Tiefes Atmen. Keine Gedanken. Nichtstun. Als wir wieder zu uns kommen, lächeln wir einander an und bedanken uns beieinander für den Moment.
In einem Interview ist Joseph Beuys mal gefragt worden, ob er nicht zu viel arbeiten würde. Daraufhin antwortete er "Es wäre doch reichlich schade, wenn von dem vielen schönen Leben am Ende noch was übrig bliebe." Diesen Satz fand ich eigentlich immer ganz toll. Das Leben auswringen und alles auf die Straße bringen, was geht. Was heißt es aber, "das schöne Leben"? Darauf wird es hier keine Antwort geben. Aber ich glaube, dass es viel damit zu tun hat, die eigene Biographie auszuweiten, also das ungelebte Leben zu beleben. Es geht gar nicht darum, viel zu schaffen. Es geht darum, die eigene Lebendigkeit zu umarmen und sich dieser bewusst zu werden. Vor einer Excel Tabelle sitzend ist jedoch wohl noch niemand Mehr geworden oder zur Erleuchtung gelangt und immer da, wo wir Dinge tun sollen, sind wir quasi automatisch nach Außen orientiert und damit beschäftigt, Dinge zu erledigen. Das trifft auch dann zu, wenn wir uns selbst Aufgaben auferlegen.
Diese Art uns, beschäftigt zu halten, trägt jedoch paradoxerweise nicht dazu bei, dass wir uns selbst ausdehnen. Nichts zu tun jedoch kann das! Tun wir nichts, verfällt unser Gehirn in einen Zustand, den der Neurowissenschaftler Markus Raichle als "Default Mode Network" beschreibt. Dabei werden bestimmte Gehirnareale aktiv, andere jedoch, welche für Konzentration zuständig sind, werden deaktiv. Dabei wird davon ausgegangen, dass damit wie beim Schlafen relevante Prozesse für die Verarbeitung von Erfahrungen möglich werden. Insofern ist Nichtstun auch nicht mit Meditation zu verwechseln. Nichtstun ist hier buchstäblich zu verstehen: N-i-c-h-t-s-Tun. Am ehesten kann der Zustand als Tagträumen gefühlt werden, in welchem das Gehirn seinen eigenen Film schreibt.
Nichtstun ist relevant. Derart relevant sogar, dass Bildung konsequent darauf setzen muss, wenn sie im Spannungsfeld aus Selbst- und Weltreflektion Effekte hervorbringen will.
Pädagogik setzt jedoch unabdingbares auf Tun. Nichtstun ist keine pädagogische Kategorie, wohl auch deshalb, da es oberflächlich gesehen nichts mit Leistung zu tun hat. Nichtstun kann nicht bewertet werden. Erlernt werden muss es dennoch. Vor allem muss es gegenüber der eigenen Schaffenswut und FOMO (Fear of Missing out; die Angst etwas zu verpassen) durchgesetzt werden. Nichtzuletzt muss auch die Scham unter das Mikroskop gelegt werden, die auftritt, wenn wir nichtstun. Sie lässt uns innerlich und äußerlich mitunter in Rechtfertigungslogiken verfallen.
Ja, Nichtstun hat viel mit Disziplin zu tun - und es ist verdammt mutig.
Reiseliteratur
Hodgkinson, T. (2013): Anleitung zum Müßiggang. Frankfurt a.M. (Suhrkamp)
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