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Ganzheitliche Bildung

Philipp

Von Philipp

Bildungswissenschaftler, Co-Founder des…

Was bedeutet es eigentlich, „gebildet“ zu sein? Mir scheint, dass dem Begriff manchmal schon fast etwas Magisches anhängt. Sie oder er ist gebildet erzeugt im Gespräch beim Gegenüber Staunen - Da hat es wohl jemand geschafft, sich durch die Irrwege des Bildungssystems bis ganz nach oben zu kämpfen. Oder jemand meint, dass eine Person ein hohes Allgemeinwissen besäße. Bildung ist jedoch weder das bloße Verfügen von Bildungsabschlüssen oder von Allgemeinwissen. Allenfalls ist das Halbbildung, die mitunter wie Schmuckstücke am Revers getragen wird. Gerade in dieser Halbbildung jedoch steckt Verflachung. Trivial ist das nicht, denn schon 1956 beschrieb Theodor W. Adorno in seinem Essay zur Theorie der Halbbildung darin ein zentrales Problemfeld einer „vor sich hinwesenden Gesellschaft“ (Adorno 1956).

Bildung ist der Flaschenhals einer Gesellschaft im Übergang.

Bereits im Wandel zur Industrialisierung spielte sie eine maßgebende Rolle. Vor allem skandinavische Länder zehren bis heute davon, den ursprünglich deutschen Bildungsbegriff bspw. eines Wilhelm von Humboldt übernommen zu haben. Besonders aufschlussreich arbeitet das Lene Rachel Andersen in ihrem Buch „The Nordic Secret“ (2017) heraus. Sie beschreibt anschaulich, welchen Mehrwert es bis ins heutige Bildungssystem skandinavischer Länder hat, Räume zu bewahren, in denen Bildung ohne Verwertungs- und Qualifizierungsgedanken gelebt wird.

Gleichwohl ist Bildung ein Begriff, der hochumstritten ist. Er ist kaum greifbar. Er ist nicht quantifizier- oder kontrollierbar. Wohl auch deshalb fliehen Akteur*innen des Bildungssystems in abrechenbare Lernziele und Kompetenzvermittlung. Doch mit den Worten des deutschen Philosophen Julian Nida-Rümelin: Eine solche “instrumentalistische Bildungspraxis ist unmenschlich” (Nida-Rümelin 2013, S. 50).

Wir befinden uns in einer Epoche, die zwischen Altem und Neuen pendelt. Aus dieser Ungeklärtheit entspringt eine Kraft, deren Richtung noch nicht klar ist. Wir wissen schier nicht, in welche Richtung es Gesellschaft, ja die ganze Welt, zieht.

Zwischen zwei Welten stehend eröffnet sich ein Raum, Bildung neu zugänglich zu machen.

Diese Bildung muss frei sein von Verwertungslogiken. Bildung muss nichts bringen und einen Abschluss muss sie auch nicht zum Ziel haben. Gleichwohl ist sie ein Gefühl, eine Haltung, die in die eigene Biographie hindurchatmet. Allein kann das jedoch nicht gelingen. Erst dann kann Bildung erfolgreich sein, wenn Menschen im Ich und Außen Platz authentischen Ausdrucks zu Teil wird.

Bildung ist die Brücke, die Menschen Klarheit finden lässt und sie somit zur Autor*innenschaft über die eigene Biographie führt.

Paradoxerweise führt diese Brücke ohne Ziel und baut sich unter den Füßen des jeweiligen Menschen Baustein für Baustein fort. Antreiberin dieser Konstruktion ist der stete Fluss von Reflexion, wie der Bildungsforscher Winfried Marotzki meint, wenn er schreibt: „Bildung setzt konsequent auf Reflexivität“ (2006). Dadurch setzt sie Menschen in Verhältnis zu sich selbst und zur Welt – Bildung ist für ihn daher der „reflexive Modus des menschlichen In-der-Welt-Seins“ (Marotzki 2006, 61).

Nun ist Bildung aber mehr als nur eine „logisch-intellektuelle Ordnungsleistung“ (ebd.). Das sieht zwar auch Marotzki ein, führt dies aber nicht explizit aus. Der Bildungstheoretiker Karl-Joseff Pazzini geht hier weiter. Für ihn ist Bildung eine „ästhetische Dimension“ (2011). Eine Dimension also, die empfunden wird. Zweifelsohne geht das nicht ohne den Körper und seine Sensorik. Körper und Geist finden in Bildungsangeboten zumeist nicht zusammen, weil sie entweder parallel oder in Unkenntnis des jeweils anderen Pols betrachtet werden.

Ganzheitliche Bildung ist sich der multikomplexen Reziprozität bewusst, die aus Körper, Geist, umgebender Welt, sozialem Miteinander und vielem Mehr entsteht.

Dabei betont sie aber nicht die Grenzen oder versucht auf abstrakter Ebene die Elemente zu trennen. Stattdessen lädt sie ein, das Ich im Innen und Außen zu erkunden, mal allein und mal mit anderen. Und wann immer ein neues Element im inneren oder äußeren Horizont erscheint, begrüßt sie es umarmend.

Eine Gesellschaft, die es jedoch verlernt hat, dass Kontemplationsräume essenziell sind für Bewusstwerdungsprozesse, braucht Unterricht darin, was es heißt, mit sich selbst und der Welt in ein wahres Verhältnis zu treten. Der Soziologe Hartmut Rosa schlägt hierfür den Begriff der Anverwandlung vor. Damit meint er das In-Beziehung-Treten mit der Welt. Dabei betont er, dass es gar nicht darauf ankommt, den Weltausschnitt, der vor einem liegt, zu beherrschen oder beherrschbar zu machen, sondern darum, dieses Stückchen Welt in den eigenen Kosmos zu integrieren – ihn einzuladen in der eigenen Bildung Raum zu finden. Eben weil Menschen damit Welt in sich hineinströmen lassen, können Menschen in einen wahrhaftigen Veränderungsprozess eintreten. Schlussendlich führt das dazu, dass ebenjene Menschen der Welt auch anders gegenübertreten, dass sie sie anders verantworten. Hier finden wir Bildung, wie Marotzki sie beschreibt, als Veränderung im Selbst- und Weltverständnis.

All das geschieht nicht nur in unserem Verstand. Ein solcher Prozess baut darauf, dass er den ganzen Körper erfasst und aus der Einheit aller körperlicher Empfindungen entspringt. Dabei meine ich nicht, dass Denken dem Fühlen unterlegen wäre. Ich verstehe sie als komplex ineinander verschachtelte Modi, wie wir uns selbst und die Welt erleben. Jedweder Versuch, Fühlen, Wissen, Denken etc. voneinander zu trennen, scheitert daher.

Ganzheitliche Bildung baut insofern auf die gelassene Akzeptanz, dass Menschen in sich und in ihr Außen verbunden sind. Sie fördert diese Verbundenheit durch mal sanftes, mal energisches Einladen, diese Verquickungen zu erkunden.

Dass diese Reise weder durch eine PowerPoint Präsentation noch durch die Ansprache lediglich eines Sinneskanals initiiert werden kann, sollte aus dem Vorangegangenen klar sein. Wir, die Bildung verantworten, dürfen vagen, uns dieser Verantwortung bewusst zu werden, sie anzunehmen und zu gestalten. Wir dürfen abseits unserer eigenen Erfahrungen in Schule oder Universität eigene Pfade erfinden. Wir dürfen unsere eigenen kollektiven und individuellen Brillen ablegen, um ganz naiv, kindlich fast, mitzuerkunden, welche Kraft der Einsicht entspringt, dass der Mensch ganz ist und ganz mit den Elementen der Welt verwurzelt ist.

Reiseliteratur

Adorno, Theodor W. ([1956] 2012): Theorie der Halbbildung. IN: Hastedt, Heiner (Hrsg.) Was ist Bildung? Eine Textanthologie. Stuttgart. (Reclam) S. 195–211.

Andersen, L.R. (2017): The Nordic Secret. A European story of beauty and freedom. Stockholm (Fri Tanke)

Lohmann, I., Mielich, S., Muhl, F., Rieger. L., Pazzini, K.J. (Hg.) (2011): Schöne neue Bildung? Zur Kritik der Universität der Gegenwart. Bielefeld (Transcript)

Marotzki, W. (2006): Bildungstheorie und Allgemeine Biographieforschung. IN: Krüger/ Marotzki (Hg.): Handbuch Erziehungswissenschaftlioche Biographieforschung. Wiesbaden (VS Verlag). 59-70

Nida-Rümelin, J. (2013): Philosophie einer humanen Bildung. Hamburg (Edition Örber Stiftung)

Rosa, H., Endres, W. (2016): Resonanzpädagogik. Weinheim (Beltz)

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