Individualisierte Gruppen
Von Monia
monias.org
Wir arbeiten viel mit der Evolutionstheorie der Spiral Dynamics (mehr dazu in der Videothek), die u.a. auf dem Spannungsfeld individuell-kollektiv basiert. Im Wesentlichen geht sie davon aus, dass wir uns um uns selbst kümmern – je nach Evolutionsstufe um unser eigenes Überleben, unseren eigenen Erfolg, unsere eigene Sinnerreichung – dann einsam werden und ins Kollektive wechseln – wo wir uns dann um unseren Clan, Gerechtigkeit oder Harmonie kümmern. Dann merken wir irgendwann, dass wir selbst zu kurz kommen und wechseln wieder in eine individuelle Stufe. Diese Spannung ist zentrale Triebkraft unserer persönlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.
Meine Sehnsucht aber ist nach dem UND. Ebenso wie in der Nachhaltigkeit, bei der uns oft so schwer fällt, das Wohl von Planeten, Menschen und Systemen gleichzeitig zu betrachten, erscheint es mir auch die Königsdisziplin des Menschseins, uns gleichzeitig gut um uns selbst zu kümmern UND um andere Menschen sowie die Gesellschaft als Ganzes. Dieser Zieldiskurs existierte schon in der Antike, z.B. in Bezug auf Bildung: Soll es sophistisch sein und zur Ansammlung von Ruhm, Reichtum und Macht befähigen? Oder soll es sokratisch sein, und zu einer kohärenten Praxis führen, in denen ich meine Werte konsequent lebe mit dem Blick auf gesellschaftliche Konsequenzen und im kontinuierlichen Austausch mit anderen? Aus meiner Erfahrung mit sokratischer / humanistischer Bildung kann ich berichten: dieses UND ist das schwerste, die Kombination aus der Entwicklung einer ganz persönlichen, individuellen Praxis, die mit meinen eigenen Überzeugungen kohärent ist UND dem kontinuierlichen Abgleich mit anderen, sowohl im Diskurs über Werte, die sich somit kontinuierlich ändern, als und vor allem in den Überlegungen zu Autonomie. Letzteres steht für mutige, ganz eigene Entscheidungen, jedoch im konstanten Abgleich meiner Handlungen mit der Überlegung, ob ich diese noch auch gut fände, wenn sich alle Menschen so verhalten würden.
Ich trage eine diffuse Überlegung mit mir herum, dass irgendetwas mit unseren Definitionen von Gemeinschaft und Unterstützung nicht stimmt. Aus all den Gruppen zur gegenseitigen Unterstützung gehe ich total erschöpft heraus: ich gebe zehn Mal Unterstützung und erhalte einmal welche (wennauch von allen Anwesenden). Diese Herangehensweise scheint energetisch nicht aufzugehen. Ansonsten erlebe ich, dass Zuhören und Beraten das ist, was wir unter Unterstützung verstehen. Aber damit sind die Älteren im Dorf nicht versorgt und als Hilfesuchende habe ich nach der Beratung nur noch mehr, das ich alleine tun muss. Obwohl alle Menschen, die ich kenne, einen sehr großen Drang danach haben, anderen zu helfen, glauben sie doch alle, dafür keine Ressourcen – vorrangig Zeit – zu haben.
Als ich von dem Ansatz der restorative justice gehört habe, hat alles in mir Heureka geschrien. Kurz erklärt: wenn ein Unrecht stattgefunden hat, machen sich die Fazilitator*innen auf den Weg und suchen in den Biografien von Täter*in und Opfer zugleich nach Menschen, die ihnen Gutes wollen und bereit sind, sich für einen Heilungsprozess für alle zu engagieren. Hierbei achten sie sehr darauf, keine Menschen einzuladen, die immer im Mittelpunkt stehen müssen oder leicht eskalieren. Sie stellen eine Gruppe von Menschen zusammen aus den Biografien aller Beteiligten, die alle Ressourcen für die kollektive Heilung haben – idealerweise sehr vielfältige Ressourcen, vom emotionalen Auffangenkönnen über Finanzen, Kontakte o.ä. Die Gruppe sucht dann – moderiert – gemeinsam nach Lösungen, die Heilung bringen für das System. Ganz individuell. Und doch kollektiv.
Lang erklärt:
Meine Faszination für dieses Modell geht jedoch weiter über den „Täter*in-Opfer“-Kontext hinaus. Genauso stelle ich mir eine Gesellschaft vor, in der ich leben möchte: wenn jemand in Krise steckt, aus welchen Gründen auch immer, kommt jemand vorbei und untersucht das Leben der Person auf unterstützende Menschen, oder wie sujatha baliga es beschreibt: „Menschen, die das Licht der Menschen kennen und nicht möchten, dass es ausgeht“. Diese kommen dann moderiert zusammen und suchen nach ganz individuellen Lösungen für diese Person und übernehmen auch Verantwortung für die Umsetzung – solange, bis die Krise vorbei ist. Gleichzeitig wird dafür gesorgt, dass die Menschen, die nur noch mehr Anstrengung ins System bringen, ausgeschlossen sind und sich niemand mit diesem unnötigen Kraftaufwand befassen muss. Die Unterstützer*innen wiederum lernen wieder, wie freudvoll helfen ist und es gelingt uns vielleicht so besser, andere Prioritäten zu setzen – denn fehlende Zeit ist immer das Ergebnis unserer Entscheidungen.
Ich habe versucht, eine solche Gruppe für meinen Mann zu überlegen. Wir saßen im Auto und ich habe überlegt, wen ich einladen würde, wenn es ihm richtig schlecht ginge. Dabei waren einige unserer Kinder, einige Kolleg*innen, ein paar Cousin*en, sogar Menschen aus der Kirchengemeinschaft in seiner Jugend. Eine ganz überraschende Gruppe entfaltete sich in unserer Fantasie. Die Fehlenden waren ebenso machtvoll wie die Auserwählten. Und wir beide begannen zu strahlen, uns zu entspannen, die Sicherheit und den Zauber dieser Lösung noch mehr zu verstehen. Ja, wenn diese Menschen zusammenkämen, um ihm zu helfen, könnte uns wirklich gar nichts passieren.